der 1. Mai nazifrei…

Vor einigen Jahren besuchte sie ihre Studienfreundin für ein paar Tage in Berlin. Das Wetter war herrlich. Am 1. Mai verabredeten sie sich mit einem befreundeten italienischen Pärchen für eine Schifffahrt. Nach einem kurzen Spaziergang im Sonnenschein kamen sie an eine Anlegestelle. Sie hätte sich wundern sollen, dass ein Krankenwagen vorfuhr und eine Person abtransportiert wurde. Aber sie dachte sich, dass man auf so einem Schiff schon mal seekrank werden oder die Treppe runter stürzen kann.
Seltsam war, dass der Mann vom Personal, der den Einlass regelte, keine Hinweise gab. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stimmung noch entspannt und sonnig. Sie bestiegen also das Schiff und es legte ab. Und dann wurde es dumpf.
Sie wollten zunächst an Deck, um die Sonne zu genießen. Aber es war kaum möglich, die Treppe hinauf zu steigen, weil das gesamte Gelände von Nazis und allen, die es werden wollen, besetzt war. Biergestank, Schweißgestank, Aggressionsgestank und gebündelte keine Ahnung – phantastisch, zwei Freundinnen und ein italienisches Pärchen mittendrin. Der kurze Blick auf das Deck zeigte ihr, warum der Krankenwagen gekommen war. Einige Blutlachen und viele Scherben ergänzten den beißenden Geruch. Die ersten unnetten Ausrufe ließen nicht lange auf sich warten und sie entschieden, unter Deck einen Kaffee zu trinken. Das stellte sich allerdings als fatale Entscheidung raus, denn unter Deck waren nicht nur doppelt so viele Nazis und alle, die es werden wollen, sondern auch noch die, die von sich denken, hier die Wortführer zu sein – ohne Wortschatz und Satzbaukompetenz.
Die Tür hinter ihnen wurde dann auch gleich verstellt, so dass ihnen erst einmal nur blieb, an einem der wenigen freien Tische Platz zu nehmen. Selten hat sie so wenig Individualität verspürt. Nicht nur, dass alle gleich angezogen waren und auch die gleichen harten Gesichtsausdrücke hatten – es waren auch wenig vielfältige Gedanken unterwegs – dafür zwei Freundinnen und ein italienisches Pärchen.
Irgendwo musste doch auch die Schiffsbesatzung und das Personal sein. Ja, ein Mann kam dann auch unter Beschimpfungen der Nazis und allen, die es werden wollen an den Tisch. Sie fragte, was das für eine Veranstaltung sei, aber die Antwort war nur Schulterzucken.
Indessen wurde die Luft unter Deck immer schlechter, der Gestank immer stärker. Die vermeintlichen Wortführer müssen ja wenigstens Tatführer sein und kamen dann auch zu ihnen an den Tisch. Während man vom Sonnendeck patriotisches Gegröle hörte, stellte sie sich die Frage, ob an der nächsten Anlegestelle ein Krankenwagen für vier Personen kommen würde oder ob vier Krankenwagen für vier Personen benötigt werden würden.
Blickwechsel fanden statt. Es war nicht die Zeit der lauten Überlegungen.
Ein übergewichtiger Wortführer schnappte sich einen Stuhl und setzte sich zu ihr. „Na, Schätzchen? Was sollen wir heute noch zusammen machen? Oder machen wir was gemeinsam mit der Schlampe neben dir und deinen Ausländerfreunden?“ Als er seine Hand auf ihren Oberschenkel legte, meinte sie, dass diese Stelle an ihrem Körper vereiste. Zumindest müsste ein Abdruck zu sehen sein. War war schlimmer? Sein Schweißgeruch, das Fett, die Aggression oder doch die eigene Angst? Sie sagte: „Danke, wir werden heute nichts zusammen machen, denn wir sind nicht miteinander verabredet.“ Der Geruch, der aus seinem Mund kam, als er schnaufte, war widerlich.
Mittlerweile hatten sich einige der anderen wie ein Kranz um ihren Tisch gruppiert. Schließlich muss ja auch gesehen werden, wenn ein vermeintlicher Wortführer was tut.
„Dann wollen wir doch mal sehen, was wir mit diesem Ausländerpärchen machen.“ Der Satz war kaum beendet, da krachte ein Stuhl hinter ihr an die Wand und zerbrach. Gefolgt von einigen Bierdosen. Sie schaute hilfesuchend nach dem Personal, welches sich wie in einem Saloon vor der Schießerei hinter der Theke verschanzte und die Köpfe einzog. Die Luft wurde immer enger und enger, als ein Tisch umgeworfen wurde und zwei weitere Stühle dabei zu Bruch gingen. Begleitet von derbem Gelächter – Humor kann so unterschiedlich sein.
Sie schloss die Augen und dachte wieder an die Krankenwagen.
Da hörte sie Sirenensignale und Megafondurchsagen, die bei den Nazis und allen, die es werden wollen, ein Innehalten zur Folge hatte. Einige Flüche, Tritte an Stühle und die Wasserschutzpolizei kam herein. Eine Frau des Personals hatte richtig gehandelt und Hilfe geordert.
Schreiereien, mehr Schweißgeruch, weitere Möbelbruchstücke, aber keine weiteren Verletzten. Kurze Absprachen mit der Wasserschutzpolizei.
Sie konnten von Bord gehen und ihren Spaziergang fortsetzen; fanden an diesem Tag aber kaum noch Worte. Die Sonne war kühl geworden. Es warteten weder ein noch vier Krankenwagen. Aber sie meinte noch tagelang, dass der widerliche Gestank an ihr haften würde – wie eine eklige Wolke.
Wer hat diese Gruppe von Nazis und allen, die es werden wollen, an Bord gelassen? Wieso waren keine anderen Gäste da; waren die alle in Krankenwagen? Wieso wurde die Schifffahrt nicht früher beendet oder gar nicht erst angetreten? Welche Einstellung hatte der Kapitän des Schiffes?
Wie gut, dass wenigstens die Frau vom Gastropersonal in der Lage war, zu handeln…

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