Auf meiner Reise durch Wien sitze ich in der Straßenbahn, schaue mir die Gebäude und das Treiben der Stadt an und träume vor mich hin. Es ist Mittagszeit und außergewöhnlich heiß. Die Straßenbahn hält und ein Mädchen steigt ein. Sie setzt sich schräg gegenüber von mir auf den Sitz.Die heiße Luft wird enger. Eine Welle von Traumatisierung und Gewalt schlägt mir entgegen. Das Mädchen ist vielleicht elf, vielleicht zwölf Jahre alt. Eine tragische Erscheinung. Die Haare dunkel und schulterlang. Sie haben seit Wochen weder Kamm noch Shampoo gesehen. Ein T-Shirt, das mehr Flecken hat als keine; eine türkisfarbene, verdreckte Legging und Sockies, die nicht mehr das Ursprungsmuster erahnen lassen – dafür keine Schuhe.
Das Gesicht des Mädchens könnte einer Greisin gehören. Der Blick nicht verwirrt, aber so stumpf, dass es weh tut. Harte Linien, die viel zu tief für ihr Alter sind, durchziehen die schmutzige Haut.
Sie hat sich offensichtlich eingenässt, aber spürt die Scham dazu nicht. Dazu ist das, was sie zu dem gemacht hat, was sie ist, zu dumpf, zu massiv, zu tragisch.
Das Mädchen ist nicht so auf die Welt gekommen. Wer war dabei? Wer hat dafür „gesorgt“, dass dieses Wesen so zerstört wurde..?
Und was kann man tun? Das Mädchen macht keinen orientierungslosen Eindruck. Sollte man es „in Obhut“ geben und ihr so das letzte bisschen Freiheit nehmen? Sollte man ihre Haare kämmen und damit äußerliche Schadensbegrenzung betreiben, wo innen alles kaputt ist?
Es fällt mir schwer, Luft zu holen. Wie können wir in solchen Wohlstandsgesellschaften leben, unser ach so soziales Engagement betonen, so lange es solche Menschen zwischen uns gibt? Was stellen wir uns so gerne als die Guten und Tollen hin; dabei lassen wir zu, dass Wesen zerfetzt werden!
Das Mädchen steigt nach 2 Stationen zielstrebig aus und geht. Ich sitze traurig, voll Mitleid, hilflos und wütend da, weil ich nicht begreifen möchte, dass wir als Gesellschaft so etwas zulassen. Mir kommt ein Satz einer guten Freundin in den Sinn: „Wenn Menschen so sind, möchte ich kein Mensch sein…“. Ja, ich schäme mich, ein Mensch zu sein, der Teil davon ist, dass solche Dinge geschehen…